Blogbeitrag




Corona und Komplexität

Die Corona-Krise als Prototyp komplexer Probleme

Timm Richter, 28. April 2020

Es wird viel sehr oft sehr abstrakt über Komplexität gesprochen, In der Corona-Krise ist sie mit Händen greifbar. Die Versuche von Regierungen, in Corona-Zeiten zu navigieren, zeigen wie in einem Brennglas alle Herausforderungen, die komplexe Probleme ausmachen. Anregungen für den praktischen Umgang mit eben diesen Problemen sind auch erkennbar.

Komplexe Probleme sind bösartig ...

... so jedenfalls definiert es Horst Rittel, der sich allgemein mit Planungsprozessen für öffentliche Vorhaben (z.B. Städtebau) beschäftigte. Seiner Ansicht nach sind die meisten wissenschaftlichen Probleme zahme Probleme: die Problemstellung kann sehr genau definiert werden, so dass man auch weiß, ob und wann ein solches Problem gelöst wurde. Die meisten, wenn nicht sogar alle wichtigen gesellschaftspolitischen Themen sind viel vertrackter, aggressiver, widersprüchlicher und insofern also bösartig, als dass sie kaum zu zähmen sind. Rittel zählt 10 Merkmale von bösartigen Problemen auf. Drei davon möchte ich hervorheben und mit Beispielen aus der Corona-Krise erläutern.

„Es gibt keine definitive Formulierung für ein bösartiges Problem“. Bei bösartigen Problemen ist die Aufgabenstellung überhaupt nicht klar definiert. Lösungsversuche führen dazu, dass man das Problem neu definiert bzw. andere Probleme in den Blick bekommt. In der Corona-Krise ging es zunächst darum, ganz allgemein Infektionen und damit Sterbefälle zu verhindern. Es wurde im Laufe der Zeit dann klarer, dass vor allem die Quote der Infizierten so niedrig gehalten werden sollte, dass die verfügbaren Kapazität an Intensivbetten ausreicht. Ansonsten würde nämlich eine mangelnde Kapazität dazu führen, dass die Sterberate durch ungenügende medizinische Betreuung steigt. Jetzt kommen weitere Überlegungen hinzu: wichtige Operationen werden verschoben, Menschen trauen sich trotz notwendiger Operationen nicht ins Krankenhaus und der Lockdown verschärft Situationen in Altersheimen. Damit hat sich der Problemfokus noch einmal verschoben und es wird sicher nicht die letzte Verschiebung bleiben.

„Lösungen für bösartige Probleme sind nicht richtig-oder-falsch, sondern gut-oder-schlecht.“ Die Corona-Krise kann man nicht wie eine mathematische Gleichung lösen. Es ist nicht klar, ob eine Maßnahme nur richtig oder falsch wahr. Zum einen fehlen dafür quantitative Grundlagen, zum anderen sind die Wirkungszusammenhänge so vielfältig, dass die Bildung von vollständigen Kausalketten kaum möglich ist. Noch schlimmer wiegt allerdings die Tatsache, dass unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Perspektiven und Interessen haben. Somit kommen diese Gruppen zu anderen Wertungen, es kann also nicht mehr mit wahr-falsch, sondern nur mit gut-schlecht bzw. besser-schlechter argumentiert werden - aus der jeweiligen Perspektive der Interessensgruppe.

Jeder Lösungsversuch ist eine „One-shot-operation“ ohne Gelegenheit zu lernen. Bei bösartigen Problemen gibt es eine zeitliche Pfadabhängigkeit. Ist erst einmal ein Weg eingeschlagen, so kann man das nicht mehr korrigieren oder auf andere Weise wiederholen. Das ist sicherlich die bisher größte Herausforderung in der Corona-Krise gewesen. Trotz unsicherer Faktenlage musste man im März entscheiden, ob man einen Lockdown macht oder nicht. Wäre es ohne Lockdown zur Überlastung des Gesundheitssystems gekommen, man hätte die Geschichte nicht mehr zurückdrehen können.

Komplexität führt zu unlösbaren Widersprüche in drei Dimensionen

Bösartige Probleme entstehen dann, wenn die Komplexität zunimmt. Wenn es sehr viele Elemente oder Variablen (Fakten, Meinungen, Möglichkeiten, Perspektiven, etc.) gibt, dann kann man nicht mehr alles mit allem kombinieren. Also muss eine Auswahl getroffen werden, man bekommt nicht alles unter einen Hut. Mit einer Auswahl entscheidet man sich für das eine und vernachlässigt anderes. Dieses andere ist dann aber nicht vergessen, sondern wird auch wieder wichtiger werden. Die mit je unterschiedlichen Auswahlen einhergehenden Widersprüchlichkeiten gehen nie wirklich weg und tauchen in drei Dimensionen auf.

In der Sachdimension zeigt sich das Spannungsverhältnis von Problem und Lösung. Jede Lösung führt bei bösartigen Problemen zu weiteren Lösungsproblemen, die dann wieder angegangen werden müssen. Problem und Lösung sind inhaltlich zirkulär miteinander verknüpft.

In der Sozialdimension zeigen sich die unterschiedlichen Perspektiven von Personen und Gruppen. Die Sachverhalte werden unterschiedlich erklärt und bewertet. Aus der je eigenen Innensicht (z.B. Gesundheitswesen, Wissenschaft oder Wirtschaft) mögen die Sichten schlüssig und nachvollziehbar, also gerechtfertigt sein. Zusammengenommen sind sie widersprüchlich und damit nicht lösbar.

In der Zeitdimension geht es um die Abwägung von Vergangenheit und Zukunft. Was heute besser aussieht, kann sich morgen ins Gegenteil verkehren und umgekehrt. Eine Vergleichbarkeit von Vergangenheit und Zukunft ist kaum gegeben, dann die Vergangenheit kann nicht verändert werden oder die Zukunft bleibt ungewiss. Trotzdem haben wir beim Problemlösen immer beide Perspektiven gleichzeitig im Blick.

Die Leitidee zur „Lösung“ von komplexen Problemen ist nicht Gewinnen, sondern Weiterspielen

Eine Erkenntnis kann man sicherlich schon heute aus der Corona-Krise ziehen: die eine richtige Lösung gibt es nicht. Dementsprechend wäre es sinnvoll und angemessen, die Aufgabenstellung bei bösartigen Problemen zu ändern: es sollte nicht um Perfektion gehen, sondern darum, dass es immer weitergehen kann. Lösungen sind dann also im Augenblick gangbare Wege, vorläufige Überbrückungskonstruktionen. Viabilität und Resilienz sind wichtiger als Maximierung und Effizienz.

Wer vor bösartigen Problemen steht, sollte möglichst schnell und oft zwischen Problem- und Lösungsperspektive wechseln, die Sichten beteiligter Stakeholder im Dialog einbinden und bei Entscheidungen versuchen, den Optionenraum so weit wie möglich offen zu halten.