Blogbeitrag




Selbstorganisation

Selbstorganisation muss organisiert werden

Timm Richter, 25. Oktober 2020

Wer modern führen will, der muss Selbstorganisation zulassen - so wird überall erzählt. Und das wird häufig so interpretiert, dass Führungskräfte sich überflüssig machen und die MitarbeiterInnen selbst alles regeln. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Selbstorganisation findet immer schon statt - ob man will oder nicht

Selbstorganisation lässt sich gar nicht vermeiden, selbst wenn man es wollte. Sie ist immer schon da, auch in äußerst hierarchischen Organisationen. Ich denke da an Verwaltungen, das Militär oder die katholische Kirche. Denn wenn es keine Selbstorganisation gäbe, dann wäre alles genauestens und vollständig durch Vorschriften und Arbeitsanweisungen geregelt. Ist es aber nicht. Weil immer wieder Dinge passieren, die nicht vorhersehbar sind, braucht es MitarbeiterInnen, die das entscheiden, was nicht geregelt ist; die Regeln und Vorschriften interpretieren. Dass es diese Freiräume immer schon gegeben hat, damit Organisationen funktionieren, fällt spätestens dann auf, wenn Dienst nach Vorschrift angedroht (!) wird. Das ist dann die Situation, wenn MitarbeiterInnen Eigeninitiative und Mitdenken, mithin Selbstorganisation, vollständig einstellen würden.

Klar ist allerdings auch, dass es unterschiedlich große Spielräume für Selbstorganisation gibt. Und in der Tat steigt der Bedarf an Selbstorganisation in dem Maße, wie die Komplexität zunimmt und von einzelnen Stellen, z.B. dem (Top-)Management nicht mehr durchschaut werden kann. Leider kommt es in der Agilitätsrhetorik häufig zu gefährlichen Übertreibungen in Punkt Selbstorganisation.

Es geht nicht um Freiheit oder Demokratie, sondern um gelingende Rahmung verteilter Energie und Intelligenz

Dann wird nämlich die Selbstorganisation von MitarbeiterInnen und Teams dermaßen betont, dass viele dies mit absoluter Freiheit verwechseln, in der jeder machen kann wie er will. Selbstorganisation wird dann zum eigentlichen Ziel erkoren und oft mit Demokratie in Gesellschaften gleichgesetzt. Das ist eine grobe Selbsttäuschung.

Denn natürlich gibt es in jeder Organisation Strukturen und Vorgaben, die den Rahmen für Selbstorganisation setzen. Irgendjemand hat z.B. entschieden, wer in welchem Team mitarbeitet, was die Aufgabe eines Teams ist und ob ein Team erfolgreich ist. Das merkt man spätestens dann, wenn das Team von jemand anders mit entsprechender Entscheidungsmacht aufgelöst wird, weil der andere mit den Ergebnissen nicht zufrieden ist. Wenn es zwischen Teams bis zum Stillstand hakt, dann gibt es in der Regel immer (hierarchische) Eskalationsmechanismen, durch die in Selbstorganisation eingegriffen wird.

Überhaupt: die relevante Eigenlogik von Unternehmen ist die des Überlebens. Es geht darum, einen Vielzahl von MitarbeiterInnen so zu koordinieren, dass das Ganze mehr ist Summe der Teile und man als Organisation morgen noch im Spiel ist. Selbstorganisation ist für Organisationen ein probates Mittel zu dem Zweck, die Energie und Intelligenz von MitarbeiterInnen und Gruppen für die eigene Überlebenssicherung zu nutzen.

Gute Führung beherrscht das Wechselspiel von operativer Selbständigkeit und gemeinsamer Reflexion der Situation

Damit Selbstorganisation für die Organisation nützlich ist, muss sie gerahmt werden. Ansonsten droht die Gefahr, dass die freigesetzte Energie nur Reibungswärme produziert und verpufft.

Eine gute Rahmung von Selbstorganisation ist eine Kunst. Es geht darum, für Richtung zu sorgen, ohne den Lösungsraum unnötig zu beschränken. Ein WARUM und oft auch das WAS werden definiert, damit die MitarbeiterInnen und Teams Kreativität beim WIE entwickeln können. Gute Führung weiß auch, dass die Grenzen zwischen dem WAS und dem WIE fließend sind. Guter Führung gelingt es, für Klarheit zu sorgen und gleichzeitig Akzeptanz und Bereitschaft dafür zu erhalten, dass sich vergangene Entscheidungen jederzeit als ungünstig herausstellen können und korrigiert werden müssen.

Selbstorganisation ist dann besonders wirksam, wenn sie in einem klaren Rahmen ausgeführt wird und es gelingt, mit möglichst vielen Beteiligten über die Sinnhaftigkeit der aktuellen Rahmung in einem kontinuierlichen Dialog zu bleiben. Man arbeitet also auf zwei Ebenen, nämlich der operativen Selbstorganisation und der reflexiven Überprüfung der Rahmung der Selbstorganisation.



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