Blogbeitrag




Auswahl zwischen gleichwertigen Alternativen

Warum Entscheidungen immer willkürlich sind

Timm Richter, 28. November 2019

Auch wenn digitale Unternehmen häufig genug klassische Managementmethoden als überholt belächeln, bei einer Sache glauben sie, klassische Managementtheorie besser umzusetzen als andere: wenn es um Entscheidungen geht, rühmen sich digitale Unternehmen, dass sie auf Basis von Experimenten, Daten und Fakten fast wissenschaftlich, auf jeden Fall sachlich ohne Ansehen der Person Entscheidungen treffen. Das bessere Argument soll gewinnen. Dabei verwechseln sie Entscheidungen mit Berechnungen.

Nur Unentscheidbares kann entschieden werden

Es lohnt sich kurz darüber nachzudenken, was Entscheiden eigentlich heißt. Wir sprechen von einer Entscheidung, wenn wir eine Auswahl aus Alternativen treffen. Dabei gilt die definierende Bedingung, dass die Alternativen gleichwertig sind. Wäre nämlich eine Alternative überlegen, gäbe es nichts zu entscheiden, da natürlich jeder die überlegene Alternative auswählen würde. Der Haken an der Sache: wenn die Alternativen wirklich gleichwertig sind, kann man nicht zwischen ihnen entscheiden! In diesem Sinne ist Heinz von Försters Feststellung zu verstehen, dass nur Untentscheidbares entschieden werden kann - der Rest ist sowieso klar.

Entscheidungen sind also, streng genommen, eine paradoxe Aufgabe, die unmöglich zu lösen ist.

Wir wollen uns nicht entscheiden, sondern Lösungen ausrechnen

Eine mögliche Strategie zur Bearbeitung dieser Entscheidungsherausforderung, die eben von Digitalunternehmen forciert wird, ist die Vermeidung von Entscheidungen. Man will es gar nicht soweit kommen lassen, dass es gleichwertige Alternativen gibt. Man sucht nach Argumenten, Fakten und führt Experimente durch, um „auszurechnen“, welche Alternative besser ist. Wenn dann die Ergebnisse der Analyse für alle an der Entscheidung Beteiligten zum selben Schluss führen, muss man - Gott sei Dank - nichts mehr entscheiden.

Für einfache Probleme mag das Vorgehen funktionieren, aber die wirklich wichtigen Entscheidungen widersetzen sich dem Ausrechnen. Horst Rittel nannte solche Probleme, die wir in unserer heutigen komplexen Welt immer öfter antreffen, bösartig. Dies hat im wesentlichen zwei Gründe.

Zum einen sind Entscheidungen ein soziales Phänomen, d.h. mehrere Parteien sind in der Regel an einer Entscheidung beteiligt. Diese Parteien, in Unternehmen z.B. Abteilungen oder Rollen, haben unterschiedliche Perspektiven, die nicht miteinander kompatibel sind. Damit sind die unterschiedlichen Präferenzen der Beteiligten eben nicht gegeneinander um- und ausrechenbar.

Zum anderen ist selbst auf der sachlichen Ebene die Gemengelage für eine Entscheidung häufig undurchschaubar. Problem und mögliche Lösungen hängen voneinander ab und sind gar nicht klar. Das Testen von möglichen Lösungsansätzen mag dazu führen, dass man das Problem plötzlich anders versteht. Der Klassiker dieser Problematik ist der Product-Market-Fit, den Starts-Ups immer suchen. Was dabei vielleicht manchen Verfechtern von Experimenten, die ich gleichwohl für wichtig halte, nicht bewusst ist: die Festlegung eines Experimentes ist bereits eine Entscheidung, die man implizit getroffen hat! Oder anders gesagt: die Festlegung von Alternativen für eine Entscheidung ist der blinde Fleck dieser nämlichen Entscheidung, da man sich für diese Alternativen (und keine anderen) entschieden hat.

Wie immer man es auch dreht: Entscheidungen muss man immer treffen, wenn Alternativen im Gleichgewicht und unentschieden sind.

Entscheidungen brauchen Asymmetrie

Wenn also alle Argumente ausgetauscht sind und sich eben keine Alternative entscheidend (sic!) hervortut, muss dieser gordische Knoten irgendwie durchschlagen werden. Dies passiert durch Willkür, auch wenn wir es beim Postrationalisieren anders nennen mögen. Willkür im wahrsten Sinne des Wortes, dass nämlich die Entscheidung einem Willen zugeschrieben wird, der eine Wahl (=Kür) trifft. Über diese Willkür wird die Waage in eine Richtung bewegt, ein Gleichgewicht, ein unentschiedener Zustand aufgehoben. Jeder Entscheidung geht so irgendeine Art der Asymmetrisierung voraus.

Demokratische Prozesse erreichen die Asymmetrie durch Mehrheiten, Holakratie schafft dies durch Festlegung von Entscheidungsrollen und -prozessen in Kreisen (Testfrage: wie wurden diese Entscheidungsprozesse entschieden?!). In sozialen Gruppen und Organisationen sichern Macht und Einfluss Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Wenn in modernen Arbeitsumfeldern Entscheidungen schwieriger werden, so liegt das auch daran, dass Macht und Einfluss weniger sozial akzeptiert sind. Das ist durchaus problematisch. Anstatt Macht und Einfluss zu verdammen, sollte man sie aufgeklärter nutzen.


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