Im Unternehmensalltag ärgern wir uns oft darüber, dass Werte zwar in Hochglanzbroschüren verkündet, aber eben nicht gelebt werden. Wir könnten uns einiges an Frustration ersparen und an Einsicht gewinnen, wenn wir den Begriff Werte klarer fassen und sauber von Normen und Regeln abgrenzen würden.
Mitarbeiter in Unternehmen, vor allem neue Mitarbeiter, versuchen, sich angemessen zu verhalten. D.h. sie versuchen sich ein Bild davon zu machen, welche Erwartungen an Verhaltensweisen man wohl in diesem Unternehmen erfüllen muss, um Mitarbeiter zu bleiben. Drei wichtige Mechanismen, die Erwartungen von Mitarbeitern an Verhaltenserwartungen formen, sind Regeln, Normen und Werte.
Regeln sind klare Ansagen, die für spezifizierte Situationen das Handeln konditionieren. Klassische Beispiele sind Reisekostenrichtlinien oder Unterschriftenregelungen. Solche Arten von Regeln sind sachlich, sehr präzise und dafür geeignet sicherzustellen, dass man sie auch einhält - z.B. durch Workflow-Software. Und wenn Regeln doch gebrochen werden, so ist ein Regelbruch deutlich erkennbar und kann geahndet werden. Regeln können leicht durch diejenigen, die formale Macht haben, gestrichen, verändert oder ausgetauscht werden.
Normen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Soll-Zustand (=Norm) definieren. Es wird also ein erwünschter Zustand, ein Ziel angegeben, das erreicht werden soll. Dies ist im Gegensatz zu Regeln eine abstraktere Formulierung von Erwartungen, denn es wird nicht genau gesagt, wie man diese Norm erreicht. In New Organzing Sprech: Das WAS wird definiert, das WIE wird freigestellt.
Wenn Normen den Soll-Zustand definieren, so kann der Ist-Zustand davon abweichen. Das führt dann aber eben nicht dazu, dass die Normen geändert werden, sondern man versucht, den Ist-Zustand anzupassen. Normen sind gegen Abweichungen recht immun. In diesem Sinne zählen die 10 Gebote zu den ältesten Normen - es tut ihrem normativem Anspruch keinen Abbruch, dass dauernd gegen sie verstoßen wird.
Die Tatsache, dass es bei Normen im Gegensatz zu Regeln einen Handlungsspielraum gibt, führt auch dazu, dass Normen neben einer sachlichen Komponente eine soziale, identitätsstiftende Komponente haben: wer versucht, sich an die durch Normen definierten Erwartungen zu halten, kann so seinen guten Willen (zur sozialen Anpassung) zum Ausdruck bringen und auf offizielle Wertschätzung hoffen. In dem Maße, wie Normen moralisch aufgeladen werden (10 Gebote sehr stark, DIN-Normen eher schwach), führt ihre Missachtung auch zu expliziter sozialer Ächtung.
Im Gegensatz zu Normen, die über das Soll definiert sind (unabhängig vom Ist), sind Werte über das Ist definiert. Was man oder eine Organisation wertschätzt (z.B. Sparsamkeit oder Großzügigkeit, Langfristigkeit oder Kurzfristigkeit, etc), zeigt sich immer im Handeln, wenn es darauf ankommt und man sich zwischen Alternativen entscheiden muss. Werte sind Wertungen, es wird gewertet, und zwar durch konkretes Handeln. In diesem Sinne sind Wertungen Entscheidungsprinzipien oder Heuristiken, die Entscheidungen ermöglichen. Wenn man nicht weiß, was man tun soll, oder man schnell handeln muss, greift man „blind“ auf Werte zurück, um zu entscheiden. Werte in Organisationen sind die Entscheidungspräferenzen, die in der Vergangenheit erfolgreich waren und über Zeit chronisch geworden sind. Solche Automatismen sparen Energie und stellen Handlungsfähigkeit sicher.
Werte entfalten ihre Kraft auch dadurch, dass sie noch abstrakter bzw vager als Normen sind - genau deshalb sind sie in vielen Situationen anwendbar, auch wenn sie dann in der konkreten Situation noch interpretiert werden müssen.
Werte zeichnen sich durch einen gelebten Konsens aus: auch wenn vielleicht diskutiert wird, ob und wie ein Wert in einer konkreten Situation zum Tragen kommt, so denkt niemanden daran, den Wert an sich in Frage zu stellen. Wie selbstverständlich und oft auch unbewusst wird ein wertkonformes Verhalten erwartet und unterstellt. Und wenn man sich nicht an die Werte hält, d.h. man anders handelt als erwartet, irritiert und verstört man und gehört (auf sozialer Ebene) nicht mehr dazu. Wer gegen den praktizierten Wertekonsens verstößt, wird von der Organisation abgestoßen.
Noch einmal im Vergleich: Gelebte Normen sind auch Werte, aber nicht jeder Wert (einer Organisation) ist (von der Führung) gewollt und Normen gelten auch, wenn gegen sie verstoßen wird.
Die vorgestellte Abgrenzung der Begriffe lässt erkennen, dass offizielle Leitbilder häufig der Logik von Normen folgen, obwohl man von Werten spricht. Leitbilder beschreiben nämlich die Verhaltensweisen, die man sich wünscht (=Soll). Die Werte eines Unternehmens hingegen beschreiben die praktizierten Verhaltensweisen - eben das, wie man Dinge hier so macht. Als Konsequenz dieser Verwechselung von Normen und Werten gibt es Widerspruch („das wird ja gar nicht gelebt“) und die semantische Redundanz der gelebten Werte.
Wenn man die Unternehmenswerte gut kennt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man mit neuen oder anderen Regeln und Normen die Unternehmenskultur (=Werte) in eine gewünschte Richtung ändert.